Ragna Sieckmann (33) lebt in der Kölner Südstadt und arbeitet bei einem Buchverlag in der PR-Abteilung für die Sachbuchsparte. Sie sagt von sich selbst, dass sie eine „Buchkonsumentin“ ist und sonst keine Hobbies hat und schon gar keine Geschichte zu erzählen hat. Schau’n wir mal.

LG: Als wir uns für’s Fotografieren verabredet haben und ich Dich nach einem Treffpunkt fragte, meintest Du: „In der Südstadt. Alles andere wäre albern!“. Die Südstadt scheint Dir wichtig zu sein. Ist das so?

Ragna: Ja, ich mag die Südstadt sehr gerne und stelle mir gern vor, für immer hier zu bleiben. Aber wer weiß, wie ich mich noch verändere…. oder die Südstadt. Auch hier wird alles andauernd teurer. Vor allem die Mieten. Als wir vor zweieinhalb Jahren in unsere 74 qm Altbauwohnung gezogen sind, kostete das 820€. Eineinhalb Jahre später haben Freunde für das gleiche Geld nur noch Drecksbuden angeboten bekommen.

LG: Wie bist Du denn in die Südstadt gekommen?

Ragna: Via Düren, Köln, Hamburg.

LG: Und was ist die lange Version davon?

Ragna: Also: Geboren bin ich in Düren im Krankenhaus, aber gewohnt haben wir in der Nähe, in einem Dorf namens Pier. Das Dorf gibt es heute nicht mehr. Das ist dem Braunkohlebau zum Opfer gefallen. Das Ortsgelände und Teile der Häuser gibt es zwar noch, aber alle Menschen sind umgesiedelt und entschädigt worden, die meisten Bauten abgerissen. Unsere Straße hieß Marienstraße. Als die vielen Menschen umgesiedelt wurden, hat man einen Teil des Ortes eins zu eins ins Museum überführt. Ich glaube sogar, genau unsere Straße. Mein Bruder glaubt allerdings nicht, dass das wirklich das Original war. So oder so: Pier ist Geschichte.

Teilweise wurden ganze Dorfgemeinschaften der Gegend gemeinsam umgesiedelt in komplett seelenlose neue Orte.

LG: Warum? Wollten die Menschen das so?

Ragna: Man hat sich davon wohl versprochen, dass vor allem ältere Menschen es dann leichter haben: Immerhin haben sie dann immer noch die gleichen Nachbarn, die sie schon seit 50 und mehr Jahren kennen.

Verrückt ist, dass sich das Ganze offensichtlich trotzdem für die Industrie lohnt: Die Familie, die in unser Haus eingezogen ist, hat den Garten komplett verwildern lassen. Die sind sogar für jeden einzelnen Baum entschädigt worden – schließlich war der Garten im Grunde ein Biotop. Aber das alles war etliche Jahre, nachdem wir weggezogen sind.

LG: Was war passiert?

Ragna: Als meine Mutter mit mir schwanger war, haben sich meine Eltern getrennt und mussten das Haus aufgeben.

Meinen Vater habe ich dann erst wiedergesehen, als ich 14 war. Mein Bruder hat glaube ich ziemlich darauf hingearbeitet, dass wir uns treffen. Er selbst hat immer mit meinem Vater Kontakt gehabt. Bis dahin hatte ich meinen Vater eigentlich nie vermisst, ich kannte das ja nicht anders. Aber das ist vielleicht auch besser so. Wer weiß, ob mich sein Einfluss besser gemacht hätte oder schlechter. Irgendwann hat er mir dann eine Karte geschrieben mit dem Vorschlag, dass wir uns treffen. Dass mich das zum Heulen gebracht hat, fand ich damals unglaublich ungerecht, das weiß ich noch. Dass er, obwohl er eigentlich kein Teil meines Lebens war, solchen Einfluss hatte.

Meine Mutter, mein Bruder und ich sind dann nach Köln gezogen, in einen Hochhausblock in Lövenich.

LG: Das ist ein heftiger Wechsel vom Dorf ins Hochhaus. Wie ist das im Hochhaus? Ich hab selbst nie in einem gelebt.

Ragna: Als Kind fand ich das toll. Ich glaube, Kinder finden die meisten Sachen gar nicht so schlimm, wie die Eltern oft denken. Meine Mutter ist groß im sich sorgen. Damals hat sie sich sicher oft Sorgen gemacht, wie das für uns dort ist. Aber es war klasse – auf fast jeder Etage war jemand, mit dem man spielen konnte.

LG: Wie lange hast Du dort gelebt?

Ragna: Als ich fast sieben war, sind wir zu meinem Onkel und meiner Tante in ihr großes Haus im recht noblen Teil von Lindenthal gezogen. Wir mit unserem rostigen alten Ford! Die Nachbarn dachten, meine Tante hat ne neue Putzfrau! Und ich unter all den Arzt- und Anwaltskindern.

Meine Mutter war immer völlig unterbezahlt als Fachlehrerin an der Hauptschule. Eigentlich ein Wunder, dass sie trotzdem sowohl meinen Bruder wie auch mich durchs Studium gebracht hat.

LG: Wie hast Du Dich in der neuen Umgebung eingefunden?

Ragna: Ganz OK. Ich war ja noch klein und jetzt ist Lindenthal ja auch nicht gerade ein Problemviertel.

Ich war als Kind eh immer ganz vernünftig. Ich wollte nur unbedingt aufs Apostelgymnasium – die übliche Adresse für Lindenthaler Kinder aus gutem Hause. Eigentlich absurd in der Rückschau. Aber mein Bruder war dort und deshalb wollte ich auch unbedingt dahin.

Ich war immer ziemlich gut in der Schule. Das typische Lehrerkind: Mir ist es nicht gerade in die Wiege gelegt worden, gegen meine Lehrer zu rebellieren. Und mit meinem großen Bruder als Maßstab, habe ich auch immer angenommen oder vielleicht auch hingenommen, dass gute Noten von mir erwartet wurden. Aber anders als mein Bruder, der ein unfassbar intelligenter Mensch ist, habe ich in der Oberstufe einfach die Fächer abgewählt, für die ich hätte lernen müssen. So habe ich’s dann immerhin zu einem Einser-Abi geschafft. Dass ich dann studieren gehen würde, war irgendwie klar, dass habe ich gar nicht erst ernsthaft in Frage gestellt.

Allerdings hatte ich keine Ahnung was! Ich hatte Interesse und vermutlich das größte Talent für Sprache. Was macht man damit? Journalismus und Werbung! In die Werbung wollten damals unheimlich viele – so wie heute: irgendwas mit Medien. Aber dafür war ich dann wohl doch zu sehr geprägt von meinem Umfeld: Das klassische Bildungsbürgertum eines Lehrerhaushalts um mich rum und dann noch im Haus meines Onkels. Der ist ein echtes Vorbild an kultivierter Bildung. Da werden dann schon große Dichter oder griechische Philosophen zitiert. Und bei seinen Feiern traf man beeindruckende Persönlichkeiten: Bednarz, Ruge oder auch Lew Kopelew. Da kann einem die Werbebranche schon mal deutlich zu oberflächlich erscheinen.

Also habe ich mich für den anderen Weg entschieden: Journalismus. Aber leider steckt eben kein Ruge oder Wallraff in mir…

LG: Warst Du zum Studium dann schon in Hamburg?

Ragna: Nein, ich wurde hier in Köln angenommen, auf der Journalistenschule. Die Schule gibt’s schon seit 68. Die Ausbildung ist verbunden mit einem Volkwirtschaftsstudium an der Kölner Uni. Das schreckt offenbar etliche Kordhosenträger ab, die sich schon mit 18 als große Feuilleton-Schreiber bei der ZEIT sehen. Deshalb ist die Kölner Journalistenschule recht klein – und sogar so Leute wie ich schaffen die Aufnahmeprüfung ohne Vorbereitung. (lacht)

Den Abschluss habe ich sogar auch noch geschafft. Aber dann habe ich eben vergeblich den Wallraff in mir gesucht. Journalisten müssen immer besser und schneller sein – als das Konkurrenzblatt, als der andere freie Mitarbeiter etc. Das hat viel mit Ellbogen zu tun, zumindest kommt mir das so vor. Wenn man gerne seinen eigenen Namen in der Zeitung liest oder eine Profilneurose hat, hilft es natürlich dabei, das auszuhalten und den nötigen Ehrgeiz zu entwickeln. Oder wenn man sich berufen fühlt, die Missstände dieser Welt aufzudecken. Ich bin nicht so.

Ich erinnerte mich dann aber an ein Praktikum, das ich während der 12 Monate Wartezeit zur Journalistenschule gemacht hatte, bei Kiepenheuer und Witsch. Bücher mag ich. Ich konsumiere Bücher am laufenden Band. Wenn Bücher um mich herum sind, fühle ich mich wohl. Also habe ich mir in den Kopf gesetzt: Was mit Büchern. Und gelernt hatte ich ja nun mal Presse. Ich hatte parallel zum Studium als Journalistin unter anderem für den WDR, die FTD und Impulse gearbeitet. Also hab ich mich bei allen großen Verlagen in deren Pressestellen beworben. Und ein Verlag in Hamburg hat mich dann genommen.

LG: WDR war nichts für Dich? Wäre auch in Köln gewesen.

Ragna: Schon. Es ist toll dort. Aber da braucht man Bilder, um etwas erzählen zu können. Und ich bin da mehr fürs Wort. Und bis man es beim WDR zu einer Festanstellung bringt… Für ein Dasein als Freie bin ich wohl zu sehr Beamtenkind.

LG: Ok. Zurück nach Hamburg und dem Verlag.

Ragna: Ich bin also für ein Jahr Volontariat nach Hamburg. Wir waren ein Team von drei Leuten. Dann ist allerdings meine Chefin weg und eine weitere Kollegin schwanger geworden. Da war ich als Volontärin plötzlich alleine in der Pressestelle. Aber ich will mich nicht beschweren, ich habe viel gelernt in der Zeit. Und es war immerhin das erste Mal so, dass ich tatsächlich genug Geld verdient habe, um davon zu leben. Für meine Geburtstagsparty in dem Jahr habe ich jedenfalls mit großem Enthusiasmus viel Geld für guten Gin ausgegeben!

LG: Und warum bist Du dann ausgerechnet zurück nach Köln? Hamburg scheint Dir gefallen zu haben.

Ragna: Hamburg ist super. Aber ich wollte von Anfang an zurück nach Köln. Ob das aber klappt, war völlig unsicher. Sooo viele Publikumsverlage gibt es hier nun auch wieder nicht. Mein Chef damals wusste aber schon früh, dass einer dieser Verlage jemanden für die PR sucht. Ich habe mich also dort beworben, aber parallel noch bei Rowohlt und anderen. Und dann hatte ich auf einmal von beiden eine Zusage! Köln hat da definitiv den Ausschlag gegeben. Meine Mutter, mein Freund, mein Bruder, der Dom. Alles hier! Aber der Anruf bei Rowohlt war dann schon verrückt: Ich habe bei Rowohlt abgesagt! Bei Rowohlt! Damals, als Fast-noch-Volontärin, unfassbar.

LG: Und was hat sich seither von der Arbeit her für Dich verändert?

Ragna: Ich habe mich, wie gesagt, wirklich sehr wohl gefühlt in Hamburg, auch bei der Arbeit, aber im Hamburger Verlag ging es mir immer ein bisschen zu intellektuell zu – Bildungsbürgertum hin oder her. Das ist schwer zu beschreiben. Ich sag’s mal so: Dort kann man tatsächlich in die Verlegenheit kommen, erklären zu müssen, was Germany’s Next Topmodel ist. Da ist mir der Verlag, bei dem ich heute bin, vom einfach näher. Die Bandbreite ist riesig, von Literatur bis hin zu blöden Witzen, aber vor allem herrscht ein gesunder Pragmatismus. Diese Veränderung war auch ein bisschen eine Erlösung für mich. Jetzt bin ich wahrscheinlich diejenige in der Abteilung, die sich am schlechtesten mit Adelsschicksalen und Promi-Geschichten auskennt. Herrlich!

LG: Was tust Du, wenn Du nicht beim Verlag arbeitest?

Ragna: Lesen! Ich habe gerade die ganze Montalbano-Reihe von Andrea Camilleri durch.

LG: Und sonstige Hobbies?

Ragna: Ich habe dich gewarnt: Da ist nicht viel mehr Besonderes! Lesen, Fernsehen, Urlaub fahren! Wobei… (Anm. des Autors: Aha!)…

ich habe ein Theater-Abo und bin FC-Mitglied! (Anm. des Autors: Ich denke, das werden die meisten Kölner durchaus als erfülltes Leben anerkennen). Und ich habe an einem tollen Tag Geburtstag! An dem ist gleichzeitig St. Georgstag, Tag des deutschen Bieres und Welttag des Buches. Mein Bruder dagegen hat am Weltfrauentag Geburtstag (lacht). Aber das ist ja auch schon wieder kein Hobby. 

LG: Was würdest Du machen, wenn Du alles machen könntest, was Du willst und Geld keine Rolle spielt?

Ragna (ohne zögern): Reisen! Ich habe so vieles noch nicht gesehen. Da muss ich noch ein wenig aufholen. Wahrscheinlich würde ich nach dem ersten Reiserausch dann für eine ganze Weile in Istanbul bleiben und endlich anständig Türkisch lernen.

Und dann würde ich gerne jeden Monat ein „Um-die-Ecke-gedacht“-Rätsel erfinden!

LG: Oh! Ich kann noch nicht mal eins alleine auflösen – schon gar nicht ohne Bleistift!

Ragna: Doch, könnte ich schon (lacht). Und dann würde ich etwas tun wollen, das einen Unterschied macht. Hier in Köln. Wenn man etwas machen kann und es nicht tun muss, dann wird das auf jeden Fall gut, stelle ich mir so vor. Zum Beispiel ein Jugendzentrum hier in der Südstadt!

LG: Wenn Du nicht in Köln wohnen würdest, wo würdest Du sonst wohnen wollen?

Ragna: Für das normale Leben? In Hamburg. Ich würde auf keinen Fall in einer Kleinstadt wohnen wollen. Wegen meines Jobs bin ich außerdem auf die deutsche Sprache angewiesen. Was bleibt? München, Hamburg, Berlin. München ist mir zu schickimicki und Berlin zu gewollt hip. Hamburg find ich gut, egal ob Eimsbüttel oder St. Pauli. Da gibt’s herrliche Backsteinhäuser, den Hafen und Wasser und ich mag es, wie die dort reden.

Mehr Informationen:

Fotografien und Interview: Lars Gehrlein, Köln, 2013

Veröffentlicht von Lars Gehrlein

Lars Gehrlein ist ein Reise- und Porträtfotograf aus Köln. Er ist immer auf der Suche nach Geschichten über (noch) unbekannte Menschen und Orte, um sie zu erzählen oder zu fotografieren.

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